„Progressive Muskelentspannung“: altbewährt in der Vorbeugung gegen Migräne

Dass Stress ein zentraler Faktor bei der Entstehung von Migräneattacken ist, gilt als unumstritten und wird durch die Forschung immer wieder bestätigt. Im Alltag zeigt sich, dass Migränebetroffene, denen eine Verminderung oder gar Vermeidung von Stress gelingt, eine deutliche Verbesserung ihrer Beschwerden erreichen können. Allerdings ist das im Alltag meist eine schwierige Sache. Wie bekommt man das also hin? Untersuchungen dazu zeigen, dass regelmäßige Übungen für eine gezielte Entspannung hier sehr positiv wirken können. Eine Methode, die gezielt dafür erdacht wurde und schon lange erfolgreich eingesetzt wird, ist die sogenannte „Progressive Muskelentspannung“.

„Progressive Muskelentspannung“: Was steckt dahinter?

In den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte der amerikanische Arzt und Psychologe Edmund Jacobson (1888–1983) eine Entspannungsmethode, mit der Patient:innen ihr Gespür für muskuläre Spannungen im Körper schulen und die gezielte Entspannung lernen sollten. „Progressiv“ heißen die Übungen deshalb, weil sie nach und nach, also voranschreitend (=„progressiv“) eine Muskelgruppe nach der anderen in die Anwendung einbezieht. Ziel der Technik ist es, durch das bewusste An- und Entspannen verschiedener Muskelgruppen die Körperwahrnehmung zu verbessern und den gesamten Körper gezielt in eine tiefe Entspannung zu versetzen. Viele Anwender:innen ziehen einen großen Nutzen aus diesen Übungen und berichten von einer deutlichen Verminderung ihres persönlichen Stressempfindens.

Ursprünglich hatte Jacobson in die Entspannungsübungen 16 verschiedene Muskelgruppen einbezogen. Um die Anwendbarkeit zu vereinfachen, wurde sie in späterer Zeit weiterentwickelt und verkürzt. Auf unserer Homepage und in unserer App „Kopfschmerzwissen“ findet man zum Beispiel eine zehnminütige Version, die sich gut in den Alltag einbauen lässt. Bereits seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts wird die Methode vorbeugend gegen Migräne eingesetzt. Später erwies sie sich auch gegen Kopfschmerz vom Spannungstyp als sehr nützlich. Im praktischen Einsatz hat sich gezeigt, dass die leichte Erlernbarkeit und die vielseitige Anwendbarkeit (zeitlich wie räumlich) für die Patient:innen von besonderem Vorteil sind.

Die Zahlen sprechen für die Methode

Schon im Jahre 1980 wurde eine frühe Untersuchung über die Wirksamkeit der Progressiven Muskelentspannung bei der Vorbeugung gegen Migräne durchgeführt. Untersucht wurde dabei die Wirksamkeit verschiedener Methoden – neben der Progressiven Muskelentspannung z.B. Biofeedback und autogenes Training. Insgesamt gingen sechs verschiedene Erhebungen in die Gesamtbeurteilung ein. Mit einem Wert von 53% konnte die Progressive Muskelentspannung eine erhebliche Verbesserung der Beschwerden erzielen. Damit liegt die Methode an der Spitze der getesteten vorbeugenden Maßnahmen gegen Migräne.

Auch in den letzten Jahren konnte die Wirksamkeit der Progressiven Muskelentspannung für die Migränevorbeugung immer wieder bestätigt werden. In einer deutschen Untersuchung aus dem Jahr 2016 führten Migränebetroffene über sechs Wochen hinweg regelmäßige Übungs-Einheiten durch. Zunächst wurden gemäß Jacobsons Idee 16 Muskelgruppen einbezogen, anschließend in den beiden folgenden Sitzungen auf sieben und schließlich nur noch vier Muskelgruppen vermindert. Gemessen wurden die Migräneattacken pro Monat, die die Betroffenen hatten, sowie ihre erlebten Migränetage insgesamt. Nach dem Ende der Anwendungen war die Zahl der Attacken um 41% und die der Migränetage um 43% vermindert – ein achtbarer Wert. Und fast noch besser: Die positive Wirkung war stabil und setzte sich während eines Nachbeobachtungs-Zeitraums fort.

Was macht die Progressive Muskelentspannung, dass sie so gut wirkt?

Aus eingehenden Forschungen weiß man, dass sich diese Entspannungstechnik sehr wahrscheinlich darauf auswirkt, wie wir Schmerz wahrnehmen und verarbeiten. Man nimmt an, die natürliche Schmerzverarbeitung ist erblich bedingt bei Migränebetroffenen im Vergleich zur migränefreien Bevölkerung besonders aktiviert. Dadurch ist die akute Gefahr von Attacken erhöht. Gleichzeitig werden Schmerzsignale erheblich schneller und stärker wahrgenommen.

Durch die Anwendung der Muskelentspannung kann der bei Migräneveranlagung erhöhte Aktivierungspegel in der Schmerzverarbeitung gesenkt werden. Zugleich findet dabei eine Anregung schmerzhemmender Bereiche im Gehirn statt. Es handelt sich also gewissermaßen um eine zweifach positive Wirkung der Übungen. In der Folge vermindern sich die Häufigkeit der Attacken, die Schwere der Schmerzen und der Medikamentengebrauch entscheidend. Außerdem lässt sich eine deutliche Verbesserung von seelischen Belastungen beobachten, die den Betroffenen durch die Migräne entstehen. In den Untersuchungen wird immer wieder hervorgehoben, dass die Progressive Muskelentspannung wegen ihrer hohen Wirksamkeit, aber auch wegen der leichten Erlern- und Anwendbarkeit anderen nicht-medikamentösen Maßnahmen überlegen ist.

Von großer Bedeutung: Migränebetroffene erlangen ihre Eigenständigkeit zurück

Hinzu kommt noch eine weitere Beobachtung der Wissenschaftler:innen, die vielen Migränebetroffenen Mut machen dürfte. Im Laufe der Zeit, in der die Patient:innen die Entspannungstechnik regelmäßig anwendeten, stellte sich bei ihnen ein immer größeres Zutrauen in die eigene Handlungsfähigkeit gegenüber ‚ihrer‘ Migräne ein. Mit jeder Übungsstufe gewannen sie mehr und mehr die Überzeugung, selbst in das Krankheitsgeschehen eingreifen zu können und fühlten sich der Migräne nicht mehr so stark ausgeliefert wie früher. Dieses Empfinden bedeutet für die Betroffenen oft einen großen Gewinn an Lebensqualität und kann Mut machen, noch weitere vorbeugende Maßnahmen gegen die Migräne in Angriff zu nehmen. Damit kann durch die Muskelentspannung nicht nur eine merkliche Verbesserung der Beschwerden erreicht werden. Vielmehr öffnet sich für die Betroffenen der Weg zu einem nachhaltigen, aktiven und vorbeugenden Umgang mit der Erkrankung.

  • Quellenangaben
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