Präsentismus: Mit Kopfschmerz zur Arbeit

„Präsentismus“ beschreibt den Umstand, dass Arbeitnehmer:innen trotz Krankheit am Arbeitsplatz erscheinen. Wie verbreitet ist dieses Verhalten, und welche Gründe führen dazu, dass wir, statt uns auszuruhen und der nachhaltigen Genesung zu widmen, weiter unserer Erwerbstätigkeit nachgehen?

Präsentismus – ein neuer Trend

In der Umfrage einer deutschen Krankenversicherung, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, gab mehr als ein Viertel der Beschäftigten an, trotz Erkrankung ihrer Arbeit nachzugehen, und das sogar häufig – sei es im Betrieb oder zuhause. Unter Mitarbeiter:innen mit Führungsverantwortung waren es immerhin noch 16%, die das einräumten. Dieses Verhalten lässt sich in Industriegesellschaften seit über zwei Jahrzehnten beobachten, der Trend ist steigend. Beschäftigte im Home-Office sind besonders anfällig: Hier gab fast jeder Zweite an, die Arbeit auch dann zu erledigen, wenn man sich krank fühlt. Mehr als jeder Zehnte arbeitet nach eigener Aussage sogar trotz ärztlicher Krankschreibung. Dabei greifen oftmals gerade diejenigen Beschäftigten, die zuhause arbeiten, zu Medikamenten, um ihrer Arbeit weiter nachgehen zu können.

Weit verbreitet bei Kopfschmerz

In den USA, Dänemark und Schweden wurde Präsentismus schon früh als Problem wahrgenommen und wissenschaftlich untersucht. Im Zentrum der Forschung stehen regelmäßig auch Kopfschmerzerkrankungen. Eine Arbeit von der Universität im schwedischen Norköpping nimmt Mitarbeiter:innen aus zwei unterschiedlichen Arbeitsumgebungen in den Blick: Einerseits Angestellte eines High-Tech-Unternehmens (Saab-Aerospace) und andererseits Mitarbeiter:innen eines öffentlichen Krankenhauses. Die Befragung wurde an 400 Beschäftigten je Gruppe per Selbstauskunft mittels Fragebögen durchgeführt. Bemerkenswert war die mit über 70% außerordentlich hohe Beteiligung an der Erhebung durch die Mitarbeiter:innen. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass die Bedeutung des Themas „Kopfschmerz und Präsentismus“ für die Beschäftigten hoch ist.

Von Kopfschmerzen als Reaktion auf Stress während der vergangenen drei Monate berichteten fast zwei Drittel der Saab-Mitarbeiter:innen. Bei den Krankenhausangestellten waren es sogar 78%. Die Selbstauskunft zum Präsentismus fragte, wie viele Mitarbeiter:innen regelmäßig trotz akuter Kopfschmerzen zur Arbeit erscheinen. Aus beiden Gruppen bekannte sich jeder Zweite dazu.

Pflegeberufe sind besonders betroffen

Besonders stark vom Präsentismus und seinen Auswirkungen betroffen sind pflegende Berufe, wie verschiedene Untersuchungen belegen, darunter auch eigene Daten des ZIES: Bei einer Zwischenauswertung im Präventionsprojekt „Aktion Pflege ohne Kopfschmerz“ der ZIES gGmbH gaben 72% der mehr als 2.800 Befragten an, sie versuchten „trotz der Schmerzen im Berufsalltag durchzuhalten“. Von diesen konsumierten 78% Kopfschmerzmedikamente in Selbstmedikation, d. h. ohne ärztliche Verschreibung.

Die Bedeutung des Problems ist in der Wissenschaft bekannt und in Untersuchungen beschrieben. So wurde beispielsweise in Lissabon eine Erhebung unter Pflegepersonal verschiedenster Fachrichtungen in einem großen Krankenhaus durchgeführt. Die Fragen bezogen sich zum Beispiel darauf, wie die Mitarbeiter:innen trotz gefühlten Krankseins mit der Arbeitsbelastung umgehen, wie stark sie Stress empfinden oder wieweit es ihnen gelingt, trotz Beschwerden ihr Arbeitspensum zu erledigen. Diejenigen Mitarbeiter:innen, die trotz Krankheit zur Arbeit gingen, nannten Stressempfinden und Angstzustände als wichtigste seelische Belastungsfaktoren. Unter den körperlichen Krankheitsanzeichen wurde neben Rückenbeschwerden und Atemwegserkrankungen die Migräne besonders häufig genannt.

Fehler bleiben oft unerkannt

Ein Artikel der US-amerikanischen Zeitschrift „Harvard Business Review“ benennt einen weiteren Umstand, der bedenklich ist und dennoch oft unbeachtet bleibt: Erscheint jemand aus Krankheitsgründen nicht im Betrieb, dann bedeutet dies, dass die Arbeit entweder warten muss oder von jemand anderem übernommen wird. Kommt der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin aber trotz Erkrankung in den Betrieb, weiß niemand – auch er oder sie selbst nicht mit Sicherheit –, wie der Gesundheitszustand sich auf die Arbeit auswirkt. Es ist erwiesen, dass in solchen Fällen nicht nur mehr Fehler auftreten. Sie sind auch folgenschwerer. Bleiben sie dann noch durch mangelhafte Konzentration unentdeckt, können die Konsequenzen fatal sein.

Präsentismus in der Sorgearbeit (Care-Arbeit)

Nicht nur Erwerbsarbeit ist Arbeit. Auch sogenannte Care-Arbeit ist Arbeit. Der Begriff der Care-Arbeit oder Sorgearbeit beschreibt die Tätigkeiten des Sorgens und Sich-Kümmerns. Darunter fallen Kinderbetreuung oder Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung oder häusliche Pflege. Gerade in diesem Umfeld stellt sich in besonderer Weise das Problem des Präsentismus. Wegbleiben wegen Krankheit ist hier meist so gut wie unmöglich. Und das nicht nur, weil sonst jemand anderes die Arbeit machen müsste oder man sie später nachholen muss, sondern weil Care-Arbeit oft nicht abgegeben oder aufgeschoben werden kann. Wer Angehörige pflegt oder sich um Kinder kümmert, muss diese Aufgaben dann erledigen, wenn sie anfallen. Häufig ist hier der Druck besonders groß, weil eine große Verantwortung auf den Schultern der Betroffenen lastet – die Verantwortung für das Wohlergehen eines anderen Menschen.

Auskurieren statt Erscheinen um jeden Preis

Für die Erwerbstätigkeit gilt der banale Satz: krank ist krank. Mit heftigem Kopfschmerz sollte man sich nicht zur Arbeit schleppen. Bei Kopfschmerzerkrankungen, insbesondere bei Migräne, ist erwiesen, dass sie schlimmer werden können, wenn man trotzdem mit dem Alltag weitermacht: Wenn sich Betroffene nicht zurückziehen, werden Migräneattacken oft stärker und halten zudem länger an. Wer vor allem morgens an Attacken leidet, die nicht länger als ein paar Stunden andauern, ist oft nachmittags wieder einsatzbereit, wenn er sich am Vormittag wirklich ausgeruht hat. Wer sich aber mit einer morgendlichen Migräneattacke zur Arbeit schleppt, riskiert, dass die Beschwerden länger andauern und stärker ausfallen. Zudem sind Betroffene während der Attacken kaum leistungsfähig. Die Aufgaben, die man erledigen will, wenn man trotz Kopfschmerzen in die Arbeit geht, kann man entsprechend nur unzureichend umsetzen. Ein Gegenhalten mit Medikamenten ist nicht empfehlenswert. Man setzt sich damit nämlich der Gefahr aus, einen Medikamentenübergebrauchskopfschmerz zu entwickeln.

In vielen Betrieben gibt es Behindertenbeauftragte, die einem bei den Problemen zur Seite stehen können, die den Betroffenen durch eine Migräneerkrankung am Arbeitsplatz zu schaffen machen.

Gerade in pflegenden Berufen ist der nachhaltigste Ansatz, Kopfschmerzen zu begegnen, wirksame Vorbeugung. Wer seine Kopfschmerzart kennt, seine persönlichen Auslöser herausfindet und es schafft, im Alltag vorsorgliches Verhalten umzusetzen, kann die Beschwerden in vielen Fällen vermindern oder sogar vermeiden.

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