Migräne: Energiemangel im Gehirn?

Die Migräneforschung arbeitet seit vielen Jahrzehnten auf Hochtouren und ist noch längst nicht müde. Die Erkrankung wirft weiter viele unbeantwortete Fragen auf. Alte Vermutungen wollen berichtigt und neue Erklärungswege gefunden werden. Man will dadurch den großen Herausforderungen begegnen können, die Betroffene erfahren.

In der Migräne-Forschung sind immer wieder bahnbrechende Erkenntnisse gemacht worden. Ein Beispiel ist die 2016 gemachte Entdeckung verschiedener Positionen im menschlichen Erbgut, bei denen bestimmte Veränderungen die Erhöhung des Risikos für eine Migräneerkrankung mit sich bringen. Dennoch ist bis heute vieles offen, was die genauen Ursachen und Vorgänge angeht, die der Migräne zugrunde liegen. Was unter den Forschenden als unstrittig gilt, ist, dass die Energieversorgung des Gehirns eine große Bedeutung bei der Entstehung von Migräneattacken hat. Darum können auch vorbeugende Maßnahmen, die an diesem Punkt ansetzen, merkliche Verbesserungen bewirken. Neuere Befunde decken Besonderheiten bei einem speziellen Vorgang der Energieversorgung des Gehirns auf, die das Migränegeschehen maßgeblich mitbeeinflussen könnten.

Mitochondrien: Die Kraftwerke in unseren Zellen

Im menschlichen Körper spielen beim Thema Energie die sogenannten Mitochondrien eine zentrale Rolle. Mitochondrien sind diejenigen Bausteine unserer Zellen, die für die Herstellung des sogenanntem „ATP“ (Adenosin-Triphosphat) zuständig sind. ATP ist der grundlegende Träger von Energie im menschlichen Organismus, sozusagen die ‚Energiewährung‘, mit der alle Lebensvorgänge angetrieben werden. Unser Körper strebt stets eine ausgewogene Energiebilanz an. Das bedeutet, es sollte nicht über eine längere Zeit mehr ATP verbraucht werden als neu gebildet wird. Tritt diese Situation aber ein und es kommt zu einem Energiedefizit, ist das für das Gehirn gefährlich. Es ist nämlich das Organ unseres Körpers mit dem größten Energieverbrauch. Zugleich verfügt es aber nicht über Energiespeicher, aus denen es sich bei Engpässen versorgen kann.

Kranke Kraftwerke – Zellen im Stress

Entsteht im Gehirn eine Energieknappheit, bedeutet dies eine Stresssituation. Dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Migräneattacke kommt. Diese Attacke ist nach heutigem Kenntnisstand eine Art Schutzmechanismus. Ist das Gehirn durch den Energie-Engpass überlastet, entwickelt sich in der Folge ein sogenannter „oxidativer Stress“: Die Entgiftungsfunktionen der Zellen werden überfordert, was zur Schädigung der Zellfunktion führen kann. Die Migräneattacke wirkt dann wie eine Art „Notbremse“ unseres Gehirns, mit der der gesamte Organismus zur Ruhe gezwungen wird. So erhält der Energiehaushalt die Chance, sich wieder zu normalisieren und die Reserven aufzufüllen.

Die Mitochondrien besitzen eine bemerkenswerte Besonderheit. Sie sind neben dem Zellkern die einzigen Bestandteile unserer Zellen, die eigenes Erbmaterial in Form von DNA besitzen. Wie bei dem Erbgut im Kern der Zellen können sich auch in der DNA in den Mitochondrien kleinste Veränderungen herausbilden, die sogenannten „Mutationen“. Manche solcher Mutationen bleiben folgenlos, andere führen zu Störungen und Erkrankungen.

Man hat inzwischen zahlreiche Stellen im Erbgut von Mitochondrien und im Zellkern gefunden, die Mutationen enthalten, welche sich krankmachend auswirken können. Bei den Kraftwerken der Zelle kann eine Folge die sogenannte „mitochondriale Erkrankung“ sein, eine Fehlfunktion der Mitochondrien. Diese führt dazu, dass die Zell-Kraftwerke nicht mehr im gewohnten Umfang den Energieträger ATP bereitstellen können. Die Symptome, die dadurch entstehen können, sind sehr vielfältig. Typischerweise betroffen sind Organe, die einen besonders hohen Energieverbrauch haben, also vor allem das Gehirn oder das Herz, aber auch die Skelettmuskulatur. Die mitochondrialen Erkrankungen gehören zu den Krankheitsursachen, die mit am häufigsten vererbt werden.

Wie entdeckt man kranke Mitochondrien?

Um festzustellen, ob eine mitochondriale Erkrankung vorliegt, wird zunächst eine sorgfältige familiäre Befunderhebung durchgeführt. So erhält man Hinweise darauf, ob mit vererbten Risikofaktoren zu rechnen ist. Anschließend werden spezielle Laboruntersuchungen mit besonderem Augenmerk auf den Energiestoffwechsel gemacht. Auch zieht man Belastungstests und neurologische Untersuchungen zu Rate. Wenn sich Verdachtsmomente ergeben, wendet man neuere, teils recht komplizierte molekularbiologische Verfahren an. Dabei wird beispielsweise die genaue Zusammensetzung der DNA von Mitochondrien und Muskeln bestimmt (sogenannte „Sequenzierung“) oder man wendet die PCR-Technik an (Polymerase-Kettenreaktion, die beim Nachweis von Covid-19 einige Bekanntheit erlangte). Darüber hinaus werden sämtliche Organe, die von einer mitochondrialen Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen werden können, eingehend auf ihre Funktion hin überprüft.

Mitochondriale Erkrankung und Migräne

In den vergangenen Jahren konnte die Forschung gut herausarbeiten, dass eine Beeinträchtigung des Energiestoffwechsels durch die Fehlfunktion von Mitochondrien wesentlich mit der Entstehung von Migräne zusammenhängen kann. Wenn das Ausmaß von oxidativem Stress immer häufiger die Fähigkeit der Nervenzellen übersteigt, diesen Stress auszugleichen, bricht das Energiegleichgewicht zusammen. Es kommt zur Migräneattacke.

Wissenschaftliche Arbeiten haben gezeigt, dass Patient:innen mit einer mitochondrialen Erkrankung überdurchschnittlich häufig eine Migräne entwickeln. In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil der Migränebetroffenen je nach Studie bei 11–14%. Bei Patient:innen mit mitochondrialer Erkrankung steigt er auf das Doppelte. Je nachdem, welche Besonderheiten in dem für den Energiestoffwechsel verantwortlichen Erbgut vorliegen, kann der Anteil in dieser Gruppe sogar mehr als 50% betragen. Damit bestätigen sich ältere Untersuchungen, die bereits in den 1970er Jahren Anzeichen dafür sahen, dass mitochondriale Erkrankungen für die Entwicklung einer Migräne von mit-ursächlicher Bedeutung sein könnten.

Vorbeugung durch sichere Energieversorgung

In Fällen, in denen der Migräne eine mitochondriale Erkrankung (mit) zugrunde liegt, ist es für Betroffene wichtig, sich über vorbeugende Möglichkeiten zu informieren. Dann kann man versuchen, entsprechende Verhaltensweisen im Alltag umzusetzen. Ansatzpunkt ist hier besonders die Vermeidung von Energie-Mangelzuständen im Gehirn. Dies erreicht man vor allem durch eine geeignete Ernährung. Eine regelmäßige Nahrungsaufnahme, die eine gleichmäßige Kohlenhydratzufuhr bereitstellt, sowie eine ausreichende Flüssigkeitsversorgung sind für Betroffene unabdingbar. Dies bildet die Grundlage dafür, dass das Gehirn als Spitzen-Energieverbraucher ohne eigene Speicher bestmöglich mit der dringend benötigten Energie beliefert wird.

Geforscht wird außerdem zur Wirkung sogenannter „Mikronährstoffe“ auf die Leistungsfähigkeit der Mitochondrien. Forschungsergebnisse zeigen, dass eine gute Versorgung mit Vitamin B2 (Riboflavin) und dem sogenannten Coenzym Q10 (Ubichinon) sowie mit Magnesium die Arbeit der Mitochondrien unterstützen und stabilisieren kann. Dennoch werden auf diesem Gebiet weitere wissenschaftliche Untersuchungen gebraucht, die Ärzt:innen und Patient:innen in Zukunft hoffentlich weitere Möglichkeiten der Vorbeugung an die Hand geben.

  • Quellenangaben
    • Del Moro L, Rota E, Pirovano E, Rainero I. Migraine, Brain Glucose Metabolism and the "Neuroenergetic" Hypothesis: A Scoping Review. J Pain. 2022 Aug;23(8):1294-1317. doi: 10.1016/j.jpain.2022.02.006. Epub 2022 Mar 14. PMID: 35296423.
    • Duffner K. Energiemangel im Gehirn – ein Schlüssel zur Migräne? Ars Medici 2007; 14: 683-685
    • Gantenbein AR, Sandor PS, Fritschy J, Turner R, Goadsby PJ, Kaube H. Sensory information processing may be neuroenergetically more demanding in migraine patients. Neuroreport. 2013 Mar 6;24(4):202-5. doi: 10.1097/WNR.0b013e32835eba81. PMID: 23381352.
    • Gormley P, Anttila V, Winsvold BS, Palta P, Esko T, et al. Meta-analysis of 375,000 individuals identifies 38 susceptibility loci for migraine. Nat Genet. 2016 Aug;48(8):856-66. doi: 10.1038/ng.3598. Epub 2016 Jun 20. Erratum in: Nat Genet. 2016 Sep 28;48(10 ):1296. PMID: 27322543; PMCID: PMC5331903.
    • Klopstock T, Priglinger C, Yilmaz A, Kornblum C, Distelmaier F, Prokisch H: Mitochondrial disorders. Dtsch Ärztebl Int 2021; 118: 741–8. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0251.
    • Oka F, Lee JH, Yuzawa I, Li M, von Bornstaedt D, Eikermann-Haerter K, Qin T, Chung DY, Sadeghian H, Seidel JL, Imai T, Vuralli D, Platt RM, Nelson MT, Joutel A, Sakadzic S, Ayata C. CADASIL mutations sensitize the brain to ischemia via spreading depolarizations and abnormal extracellular potassium homeostasis. J Clin Invest. 2022 Apr 15;132(8):e149759. doi: 10.1172/JCI149759.
    • Sacconi S, Trevisson E, Salviati L, Aymé S, Rigal O, Redondo AG, Mancuso M, Siciliano G, Tonin P, Angelini C, Auré K, Lombès A, Desnuelle C. Coenzyme Q10 is frequently reduced in muscle of patients with mitochondrial myopathy. Neuromuscul Disord. 2010 Jan;20(1):44-8. doi: 10.1016/j.nmd.2009.10.014. Epub 2009 Nov 27. PMID: 19945282.
    • Sagan L. On the origin of mitosing cells. J Theor Biol. 1967 Mar;14(3):255-74. doi: 10.1016/0022-5193(67)90079-3. PMID: 11541392.
    • Sangiorgi S, Mochi M, Riva R, Cortelli P, Monari L, Pierangeli G, Montagna P. Abnormal platelet mitochondrial function in patients affected by migraine with and without aura. Cephalalgia. 1994 Feb;14(1):21-3. doi: 10.1046/j.1468-2982.1994.1401021.x. PMID: 8200018.
    • Skinhoj E. Hemodynamic studies within the brain during migraine. Arch Neurol. 1973 Aug;29(2):95-8. doi: 10.1001/archneur.1973.00490260039007. PMID: 4717726.
    • Sparaco M, Feleppa M, Lipton RB, Rapoport AM, Bigal ME. Mitochondrial dysfunction and migraine: evidence and hypotheses. Cephalalgia. 2006 Apr;26(4):361-72. doi: 10.1111/j.1468-2982.2005.01059.x. PMID: 16556237.
    • Terrin A, Bello L, Valentino ML, Caporali L, Sorarù G, Carelli V, Maggioni F, Zeviani M, Pegoraro E. The relevance of migraine in the clinical spectrum of mitochondrial disorders. Sci Rep. 2022 Mar 10;12(1):4222. doi: 10.1038/s41598-022-08206-z. PMID: 35273322; PMCID: PMC8913605.
    • Tiehuis LH, Koene S, Saris CGJ, Janssen MCH. Mitochondrial migraine; a prevalence, impact and treatment efficacy cohort study. Mitochondrion. 2020 Jul;53:128-132. doi: 10.1016/j.mito.2020.05.004. Epub 2020 May 25. PMID: 32464279.
    • Yorns WR Jr, Hardison HH. Mitochondrial dysfunction in migraine. Semin Pediatr Neurol. 2013 Sep;20(3):188-93. doi: 10.1016/j.spen.2013.09.002. PMID: 24331360.
    • Internet:
    • https://schmerzklinik.de/kann-die-ernaehrung-bei-migraene-eigentlich-auch-zur-therapie-werden/
    • abgerufen am 2.5.2024