Migräne – ein Überbleibsel der Menschheitsgeschichte?

Seit einigen Jahren ist bekannt, dass Migräne – genauer gesagt: die Veranlagung, eine Migräne zu entwickeln – durch eine Reihe von Erbanlagen, den „Genen“, im menschlichen Erbgut (mit-) beeinflusst wird. Diese Gene unterliegen wie alle unsere Erbanlagen einer ständigen Veränderung. Eigenschaften, die sich als nachteilig erweisen, werden früher oder später aus unserem Erbgut entfernt, die vorteilhaften bleiben bestehen. So kommt es, dass sich die Lebewesen - und eben auch wir Menschen - stetig an die Umwelt anpassen, in der sie leben.

Migränebetroffene werden zweifellos zustimmen, dass die Krankheit ihnen erhebliche Nachteile beschert. So gesehen müssten die Erbanlagen, die dafür verantwortlich sind, eigentlich im Laufe der Menschheitsentwicklung aus unserem Erbgut entfernt worden sein. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall.

Es muss also Gründe dafür geben, dass sich die Veranlagung für Migräne erhalten hat und noch immer an unsere Nachkommen weitervererbt wird. Einigen davon wollen wir in unserem Beitrag nachspüren.

Grundsätzliche Gedanken dazu hat sich die Wissenschaft schon öfter gemacht. Die zentrale Frage lautet: Warum bestehen Gene fort, die eine Empfindlichkeit gegenüber starkem Kopfschmerz verursachen?

Man kann Erklärungen für dieses Rätsel näherkommen, wenn man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Die Fragestellung ist dabei: Könnte ein offenkundig nachteiliges, weil Schmerzen verursachendes Gen dennoch seiner/m Träger:in von Nutzen sein, weil es mit einer weiteren Eigenschaft einhergeht, die einen großen, vielleicht überlebenswichtigen Vorteil bietet?

Dann könnte dies eine Erklärung dafür liefern, warum die Migräne-Gene bis heute nicht aus dem menschlichen Erbgut gelöscht wurden. Aber welche Eigenschaften könnten das sein?

Eine ‚Kosten-Nutzen-Abwägung‘: Gute Versorgung des Gehirns und Migräne-Leid

Ein möglicher Erklärungsansatz bezieht sich auf die Versorgung unseres wichtigsten Organs mit Sauerstoff und Energie: Das Gehirn. Normalerweise sorgt unser Körper dafür, dass dies gewährleistet ist, ohne dass wir etwas davon mitbekommen – wie bei vielen anderen Körperfunktionen auch. Gefährlich kann es werden, wenn diese Steuerung einmal nicht perfekt arbeitet und unser Gehirn Gefahr läuft, unterversorgt zu werden. In solch einer potenziell lebensbedrohlichen Situation setzen die Nervenzellen in Sekundenschnelle gefäßerweiternde Botenstoffe frei. In der Folge weiten sich die großen Blutgefäße, die dem Gehirn Blut zuführen. So wird ein drohender Mangel abgewendet und die Versorgung des Gehirns sichergestellt. Dieser lebensrettende Mechanismus arbeitet bei Migränebetroffenen besonders wirksam. Die Kehrseite der Rettung: Der wichtigste Botenstoff, der bei diesem Vorgang eine Rolle spielt, steht nach heutigem Stand der Wissenschaft zugleich im Verdacht, ursächlich an der Entstehung von Migräne beteiligt zu sein.

Die besondere Fähigkeit, die Gehirngefäße rasch weiten zu können, ist zweifellos wertvoll – kann sie doch im Notfall Versorgungsengpässe im Gehirn verhindern und damit Überleben sichern. Der „Preis“ für einen solchen wertvollen Vorteil wäre dann die Migräne, die sozusagen als „Begleiterscheinung“ entsteht. Es scheint, als würde in einer Kosten-Nutzen-Abwägung ein großer Vorteil (das Überleben bei einer drohenden Durchblutungsstörung) durch einen vergleichsweise kleinen Nachteil (die Migräne) erkauft.

Geruchsempfindlichkeit als Vorteil?

Migränepatient:innen zeigen häufig eine besondere Empfindlichkeit, manchmal gar eine regelrechte Abneigung gegenüber Gerüchen. Diese Beobachtung veranlasste die Wissenschaft zu der folgenden Mutmaßung: In den Zeiten der frühen Menschheitsentwicklung könnte sich diese Eigenschaft als nützlich erwiesen haben. Dadurch wird nämlich auch Giftstoffen, die durch die Nase aufgenommen werden, der Weg ins Riechorgan und damit in den Körper erschwert oder ganz verwehrt. Das ist deswegen von Bedeutung, weil der Riechnerv der einzige Sinnesnerv ist, der direkt mit dem Gehirn verbunden ist. Gefahrstoffe, die durch die Nase eindringen, haben daher einen unmittelbaren Zugang zu unserem zentralen Nervensystem. Unter Umständen birgt dies große Gefahren für den Organismus.

Daher könnte eine ausgeprägte Abneigung gegen bestimmte Geruchsstoffe in der Entwicklung des Menschen sehr vorteilhaft gewesen sein, weil sie das Gehirn der Betroffenen vor einer Schädigung bewahrte. Dies würde zweifellos einen wertvollen Nutzen bedeuten, für den der „kleine“ Nachteil der Migräneanfälligkeit von der Natur in Kauf genommen würde.

Alte Veranlagung trifft auf moderne Lebenswelten

Das Nervensystem von Migränebetroffenen weist einige Besonderheiten auf. Es ist besonders empfindlich für jede Art von einströmenden Informationen aus der Umgebung und zeichnet sich durch eine hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit für Wahrnehmungen aller Art aus. So nehmen Betroffene zum Beispiel Gerüche, Licht oder Lärm stärker wahr als Menschen ohne die Veranlagung zur Migräne. Zudem ist ihre Schmerzschwelle herabgesetzt. Außerdem ist eine Regelmäßigkeit, etwa bei Essen und Trinken und beim Schlaf, von großer Wichtigkeit. Dies bedeutet, dass beispielsweise ausgelassene Mahlzeiten oder ein unregelmäßiger Schlafrhythmus für Betroffene besonders starke Auswirkungen haben. Auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress ist vermindert.

Nun sehen unsere modernen Lebensumstände ziemlich genau so aus, dass sie für Menschen mit diesen Anlagen eine besondere Herausforderung darstellen: Reizüberflutung, Alltagshektik, Schlafprobleme, unregelmäßiges Essen. All das sind bekannte klassische Migräneauslöser. Und zweifellos sind wir heutzutage viel häufiger mit ihnen konfrontiert, als es in der langen Zeit unserer Menschheitsentwicklung jemals der Fall war.

Das passt gut zu der Beobachtung, dass die Migräne-Häufigkeit insgesamt steigt. Es könnte sein, dass die Auswirkungen der beim Menschen schon seit Urzeiten vorhandenen Veranlagung zur Migräne heute schlicht größer sind, weil die Auslöser überhandnehmen. Möglicherweise tragen wir die Migräne von jeher in unseren Genen mit, stellen aber erst seit wenigen Jahrhunderten fest, dass sie so schmerzhafte Ausprägungen haben kann.

Fazit: Die Rechnung der Natur geht (noch) auf

Die Migräne als Krankheitsbild könnte Ergebnis eines „Handels“ der Natur sein. Erbanlagen, die zwar belastend, aber nicht lebensbedrohlich sind – wie die Migräne – wurden möglicherweise beibehalten, weil mit ihnen vorteilhafte Eigenschaften einhergehen, die von übergeordnetem Nutzen sind. Die Sicherung der Hirndurchblutung oder der Schutz vor Giftstoffen – wie oben dargestellt – können sich als lebenserhaltend und damit als äußerst wertvoll erweisen. Daher überwiegen sie die Nachteile, die mit der Migräne als „Begleiterscheinung“ verbunden sind.

Nach allem, was wir derzeit wissen, kann man annehmen: Die erbliche Veranlagung zur Migräne gibt es bis heute, weil sie in der „Kosten-Nutzen-Abwägung“ der Natur sich als nach wie vor hinnehmbar erwiesen hat. Sie geht mit Vorteilen einher, die im Laufe unserer Menschheitsentwicklung von besonderem Nutzen waren – und möglicherweise bis heute sind.

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