Blutdruck und Kopfschmerz, Teil 2: Sorgen erstaunliche Befunde für Verwirrung?

In unserem letzten Beitrag haben wir mögliche Zusammenhänge zwischen Blutdruck und Kopfschmerz dargestellt. Dieser zweite Teil erklärt spannende Befunde aus der Wissenschaft zum Thema Blutdruck und Kopfschmerz, die auf den ersten Blick eher für Verwirrung sorgen können. Wir bringen Ordnung in die Sache!

Eine besonders interessante Beobachtung sorgt im Expert:innenkreis schon länger für Diskussionsstoff. Die Rede ist von einer Theorie, die seit mehr als einem Jahrhundert im Raum steht: die These von der sogenannten Hypalgesie bei Patient:innen mit Bluthochdruck. Der Begriff „Hypalgesie“ beschreibt den Umstand, dass bei Menschen mit hohem Blutdruck die allgemeine Schmerzempfindlichkeit herabgesetzt ist. Eingehend wissenschaftlich beschrieben wurde dies zuerst im Jahre 1980 und anschließend durch weitere Studien bestätigt. Damit erhärtete sich eine Vermutung, die bereits 1913 vom New Yorker Arzt Theodore C. Janeway aufgestellt wurde, wonach Personen mit erhöhtem Blutdruck grundsätzlich eine erhöhte Reizschwelle für die Schmerzempfindung besitzen. Hinsichtlich der in Teil 1 unserer Abhandlung beschriebenen Zusammenhänge zwischen Kopfschmerz und Bluthochdruck stellt sich nun die Frage: Wenn Menschen mit erhöhtem Blutdruck nicht so schnell Schmerzen empfinden wie Menschen mit normalem oder niedrigem Blutdruck, wie kann es dann sein, dass Bluthochdruckpatient:innen häufiger Kopfschmerzen empfinden als Menschen ohne Bluthochdruck?

Was hat sich die Evolution dabei gedacht? Eine mögliche Auflösung des Rätsels…

Über die Steuerungswege, die zur herabgesetzten Schmerzempfindlichkeit bei Bluthochdruck führen, gibt es bislang keine Klarheit. Gesichert scheint zu sein, dass die körpereigene Regulierung des Blutdrucks eine Rolle spielt. Es stellt die Kontrolle und gegebenenfalls auch eine notwendige Einstellung des Blutdrucks sicher. Dies passiert mithilfe von Steuerungsvorgängen, an denen unter anderem auch unser Nervensystem mitwirkt. Die beteiligten Nerven besitzen neben ihrer druckregulierenden Funktion auch Verbindungen zu unserer Schmerzwahrnehmung. Überdies besteht auch ein Kontakt zu weiteren zentralen Steuerungsprozessen, die beispielsweise an der Verarbeitung von Stress, Aggression, Fluchtbereitschaft oder auch Entspannung mitwirken. Wissenschaftler:innen, die sich mit diesen komplizierten Zusammenhängen beschäftigen, sprechen in Bezug auf die reduzierte Schmerzwahrnehmung auch von einem „Belohnungssystem“. Dieses wird immer dann in Gang gesetzt, wenn wir in besonderem Maße Stress ausgesetzt sind. In einer solchen Situation kommt es häufig zu einer Steigerung des Blutdrucks.

Blickt man auf die viele Jahrtausende alte Stammesentwicklung des Menschen, so erschließt sich auch ein Sinn hinter diesen Vorgängen: Wenn ein Organismus starken Stress empfindet, so war dies bei den frühen Menschen häufig mit einer Gefahr für Leib und Leben verbunden – beispielsweise in Form von Raubtieren oder Feinden. Daher könnte in derartigen Momenten der Blutdruck mit dem Ziel ansteigen, eine erhöhte Flucht- oder auch Kampfbereitschaft angesichts einer solchen Bedrohungslage sicherzustellen. Zugleich sollte zu diesem Zweck das Schmerzempfinden möglichst weitgehend vermindert werden, damit der Organismus nicht ‚unnötig‘ durch Schmerz aufgehalten oder gelähmt wird, sondern maximal reaktionsfähig ist. Das könnte erklären, welchen Zweck die vorübergehende Erhöhung des Blutdrucks in Stress-Situationen ursprünglich hatte. Aus heutiger Sicht würde man also bei diesen – zunächst für uns seltsam anmutenden – Wechselwirkungen von einem Überbleibsel aus unserer Menschwerdungs-Geschichte sprechen.

Das weite Feld des Blutdruckgeschehens

Die Wahrnehmung von Schmerz scheint nur einer unter vielen Aspekten zu sein, die mit dem aktuellen oder auch langfristigen Blutdruckgeschehen in Zusammenhang stehen. Vermutlich muss man sie in einen größeren Zusammenhang stellen mit den zahlreichen Regulationsvorgängen, die an vielen Stellen für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in unserem Organismus (der sogenannten „Homöostase“) verantwortlich sind. Zudem muss beachtet werden, dass die oben beschriebene Theorie der verminderten Schmerzempfindlichkeit sich auf die allgemeine Wahrnehmung von Schmerz bezieht. Viele Untersuchungen zu diesem Thema wurden tatsächlich nicht an Kopfschmerzen, sondern an anderen Schmerzarten untersucht. Damit ergibt sich zwangsläufig immer die Frage, ob und in welchem Umfang die gewonnenen Erkenntnisse auf andere oder gar auf alle Formen des Schmerzes übertragbar sind. Das lässt sich bisher nicht beantworten.

Was noch erforscht werden könnte

Aus dem Stand der Erkenntnisse hinsichtlich des gemeinsamen Auftretens von Bluthochdruck und (Kopf-) schmerzen im Allgemeinen sowie von Migräne im Besonderen ergeben sich weitergehende mögliche Forschungsfragen:

– Wenn jemand mit Migräne-Veranlagung auch an Bluthochdruck leidet, hat diese Person der Theorie nach ein vermindertes Schmerzempfinden. Wenn sich dennoch eine Migräneattacke einstellt, ergibt sich die Frage, ob sich der Schmerz aufgrund seiner enormen Stärke trotzdem durchsetzt.

– Kann man davon ausgehen, dass der tatsächlich empfundene Kopfschmerz ohne die abmildernden Voraussetzungen durch hohen Blutdruck noch stärker wäre als von den Betroffenen tatsächlich wahrgenommen?

– Unterliegt die Migräne als eigenständige neurologische Erkrankung grundsätzlich Gesetzmäßigkeiten, die durch die Gleichgewichts-Regulation des Körpers nicht oder nur unzureichend beherrschbar sind?

– Entstehen Kopfschmerzen allgemein dann, wenn diese Regulationsmechanismen an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten oder anderweitig in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt oder begrenzt sind? So würden möglicherweise die Effekte der Regulation beim Entstehen und Empfinden von Kopfschmerzen kaum oder gar nicht mehr zum Tragen kommen.

Trotz oder gerade wegen des weiterhin großen Bedarfs an Forschungsarbeit in diesem Bereich bleibt für alle, die unter Kopfschmerzen oder Migräne leiden, der Rat aktuell, sich mit ihrem ganz eigenen Schmerz so gut wie möglich vertraut zu machen. Wer seine persönlichen Auslöser von Kopfschmerz- oder Migräneattacken kennt, kann sein vorbeugendes Verhalten so wirksam und nachhaltig wie möglich in seinen Alltag einbauen. Damit greift man eigenständig in das persönliche Kopfschmerzgeschehen ein und kann so im besten Sinne Vorbeugung betreiben.

  • Quellenangaben
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