Was passiert bei einer Migräneattacke im Gehirn?

Jeder kennt sie, doch nur wenige wissen, welche Vorgänge in unserem Gehirn ihnen zugrunde liegen: die Migräneattacken. Die Wissenschaft forscht seit Jahrzehnten intensiv an dieser globalen Krankheit und ihrem komplexen Krankheitsbild und konnte entscheidende Erkenntnisse gewinnen. Im aktuellen Beitrag widmen wir uns dem neuesten Stand der Frage, was während einer Migräneattacke im Gehirn passiert sowie den aktuellen Forschungsschwerpunkten.

Migräne ist eine Erkrankung, die das zentrale Nervensystem betrifft. Unter Migräne leiden weltweit Millionen von Menschen. Die langjährige Forschung zu diesem Krankheitsbild erbringt laufend neue Resultate, Annahmen und Vermutungen über die zugrunde liegenden Zusammenhänge.

Vor allem in den letzten Jahrzehnten konnten einige entscheidende Erkenntnisse erlangt werden. So weiß man beispielsweise inzwischen, dass Migräne eine vererbbare Grundlage hat. Ihre Entstehung wird also durch eine Reihe von Erbfaktoren begünstigt. Wie genau kommt es aber nun zur Ausprägung dieser besonderen Kopfschmerzerkrankung? Welche Wirkmechanismen spielen eine Rolle? Die Antworten liegen trotz intensiver Forschung nach wie vor zu einem erheblichen Teil im Dunkeln. Wir beschreiben hier den neuesten Stand der Erkenntnisse darüber, was während einer Migräneattacke genau im Gehirn passiert und wo die aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen.

Erregungswelle im Gehirn

Eine Reihe von neueren Veröffentlichungen nimmt die Vorgänge unter die Lupe, die an einer Migräneattacke mit Aura beteiligt sind. Als gesichert gilt inzwischen, dass für das Schmerzgeschehen bestimmte Nervenbahnen eine wichtige Rolle spielen, welche die Hirnhäute mit Informationen versorgen. In früheren Forschungen wurde ein Vorgang entdeckt, bei dem es in der Großhirnrinde (dem sogenannten Hirn-Kortex) im Vorfeld einer Migräneattacke zu einer wellenartigen Nervenerregung kommt. Die Wissenschaft hat dafür den Begriff der „Kortikalen Streudepolarisierung“ geprägt. Man kann sich den Ablauf einer solchen Welle gut vorstellen, wenn man sich vor Augen führt, was passiert, wenn ein Stein in einen ruhigen See geworfen wird. Vom Punkt der Entstehung der Erregung breitet sich die Welle immer weiter aus, so dass schließlich ganze Areale der Hirnrinde davon erfasst werden.

Beschrieben wurde der Vorgang erstmals im Jahre 1944 durch den brasilianischen Wissenschaftler Aristides P. Leão. Gleichwohl brauchte es Jahrzehnte der Forschung, bis leistungsfähige Untersuchungsmethoden und Messverfahren zur Verfügung standen. Erst dann konnte die Existenz dieser Erscheinung bestätigt werden.

Direkter Zusammenhang mit der Migräneattacke

Bei solchen wandernden Erregungswellen ‚feuern‘ große Mengen an Nervenzellen gleichzeitig. Man kann sich leicht vorstellen, dass solch ein Geschehen ungeheuer viel Energie verbraucht. Möglicherweise liegt hierin der Grund dafür, dass es nach einem solchen Ereignis zu einer vorübergehenden Verminderung der Aktivität der Nervenverbindungen (der Synapsen) kommt. Dadurch verlangsamt sich auch die Signalübertragung, das Gehirn befindet sich für eine Weile im Erschöpfungszustand.

In diesem Zusammenhang ist auch eine Minderversorgung des Gehirngewebes mit Sauerstoff beschrieben, die seit langem als Auslöser von Migräneattacken bekannt ist. Man nimmt heute an, dass es eine direkte Verbindung zwischen dem Ereignis der sich ausbreitenden Erregungswellen und dem Migränegeschehen gibt. Die enge Verknüpfung der Hirnhaut-Nerven mit den Bereichen, in denen die Erregungswelle abläuft, wird dabei als Übertragungsweg angenommen.

Hohe Aktivität der Nervenzellen

Man vermutet, dass bei Migränebetroffenen genau diese Hirnhaut-Nerven eine besonders hohe Aktivität aufweisen. Darüber hinaus ist sich die Wissenschaft einig darüber, dass die Nervenzellen in der Hirnrinde von Migränepatient*innen besonders leicht erregbar sind und eine gesteigerte Reizverarbeitung besitzen. Diese Eigenschaft, von den Forscher*innen als „Hypererregbarkeit“ (also: Über-Erregbarkeit) bezeichnet, wurde in zahlreichen Untersuchungen beschrieben. Bei einem Teil der Patient*innen, so nimmt man an, führt dieser Zustand sehr leicht zu der oben beschriebenen wandernden Erregungswelle und setzt den verhängnisvollen Mechanismus in Richtung Migräneattacke in Gang.

Aura und Attacke

Der oftmals enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Migräneaura und dem Beginn der eigentlichen Migräneattacke führte Wissenschaftler*innen bereits vor beinahe 40 Jahren zu der Annahme, dass es eine enge Verbindung zwischen Aura- und Schmerzphasen geben müsse. Seitdem wurde eine große Zahl an Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Erregungswelle, Aura und Schmerzgeschehen durchgeführt. Heute geht man davon aus, dass die Entwicklung einer Aura dem Auftreten der wellenartigen Nervenerregung im Vorfeld der Migräneattacke zuzuordnen ist. In dem Fall nämlich, in dem die langsame Ausbreitung der Welle das Sehzentrum miteinbezieht, kann es zu optischen Trugbildern und Verzerrungen kommen, die häufig während einer Migräneaura zu beobachten sind.

Was genau passiert während der Erregungswelle?

Während der Erregungswelle in der Hirnrinde kommt es zur Freisetzung unzähliger Botenstoffe aus den Zellen des Hirngewebes. Darunter sind etliche Substanzen, die das Schmerzempfinden beeinflussen können. Eine Annahme geht davon aus, dass diese sogenannten Mediatoren (zu Deutsch: „Vermittler“) sich aus dem Gewebe in Richtung der Hirnhäute in den betroffenen Regionen bewegen. Dort lösen sie an nahegelegenen Nervenendigungen eine Schmerzwahrnehmung aus. Die Nerven ihrerseits reagieren mit der Abgabe von entzündungsfördernden Stoffen in ihre Umgebung. Dadurch werden sogenannte neurogene („durch Nervengewebe ausgelöste“) Entzündungen verursacht. Auch dabei kommt es zu Freisetzung schmerzaktiver Moleküle, Schmerzdauer und -empfindlichkeit erhöhen sich.

Ein weiterer Befund betrifft die Durchblutung im Gehirn und damit das Thema Sauerstoffversorgung, die im Nervengewebe besonders wichtig ist. Speziell bei Migräne mit Aura kommt es während der Erregungswelle in der Hirnrinde zur Beeinträchtigung der Durchblutung einzelner Hirnareale. Dies zieht eine Minderversorgung mit Sauerstoff nach sich. Der entstehende Mangel wiederum kann seinerseits eine Migräneattacke verursachen. Diese Vorgänge können letztlich in einen klassischen Teufelskreis führen.

Die Migräne: Weiterhin eine ‚harte Nuss‘ für die Wissenschaft

Man könnte noch etliche weitere Einzelbefunde aufzählen, die vermutlich einen Anteil am Migränegeschehen besitzen. Die eigentliche Kunst der Wissenschaft besteht nun darin, die ungeheure Menge an diesen Befunden und Forschungsergebnissen zu einem in sich stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen. Nur so kann man die Vorgänge in unserem Gehirn, die einer Migräne zugrunde liegen, in einem umfassenden Denkmodell erklären. Solch ein Gesamtkonzept sollte es außerdem ermöglichen, Erklärungen für die verschiedenen Formen der Migräne (z.B. mit oder ohne Aura) zu liefern. Bei einem Krankheitsbild, an dem so viele verschiedene Faktoren beteiligt sind, ist das eine Mammutaufgabe der Wissenschaft. Wir werden unsere Leser*innen auf dem Weg dorthin mit den neuesten Forschungsergebnissen versorgen und deren Bedeutung erläutern.

  • Quellenangaben
    • Aristides P. Leão (1944). Spreading depression of activity in the cerebral cortex. J. Neurophysiol. 7: 359–390
    • Carneiro-Nascimento S, Levy D. Cortical spreading depression and meningeal nociception. Neurobiol Pain. 2022 Apr 22;11:100091. doi: 10.1016/j.ynpai.2022.100091.
    • GBD 2017 Disease and Injury Incidence and Prevalence Collaborators. Global, regional, and national incidence, prevalence, and years lived with disability for 354 diseases and injuries for 195 countries and territories, 1990-2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet. 2018 Nov 10;392(10159):1789-1858. doi: 10.1016/S0140-6736(18)32279-7. Epub 2018 Nov 8.
    • GBD 2019 Diseases and Injuries Collaborators. Global burden of 369 diseases and injuries in 204 countries and territories, 1990-2019: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2019. Lancet. 2020 Oct 17;396(10258):1204-1222. doi: 10.1016/S0140-6736(20)30925-9.
    • Steiner TJ, Stovner LJ, Vos T, Jensen R, Katsarava Z. Migraine is first cause of disability in under 50s: will health politicians now take notice? J Headache Pain. 2018 Feb 21;19(1):17. doi: 10.1186/s10194-018-0846-2.