Alles andere als gleich: Schmerzwahrnehmung bei Mann und Frau

Wir alle kennen Schmerz. Er ist ein Hilfsmittel, das uns über den Zustand unseres Körpers informiert. Lange glaubte man, dass Männer und Frauen sich in der Wahrnehmung von Schmerz etwa gleichen. Dieses Bild gerät im Licht neuer Forschungen ins Wanken. Es treten immer mehr Unterschiede zutage. Was wissen wir darüber und welche Gründe könnte es dafür geben?

Schmerz – was ist das eigentlich? Eine Begriffserklärung

John Bonica, ein amerikanischer Anästhesist, der als Begründer der modernen Schmerzmedizin gilt, liefert die folgende Beschreibung:

„Eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“

Schmerz ist also eine unangenehme Wahrnehmung, die auf eine (tatsächliche oder empfundene) Verletzung von Körper oder Seele des Menschen zurückgeführt werden kann.

Der nützliche Schmerz im Laufe unserer Evolution

Wenn wir ein ganzes Stück in der Naturgeschichte zurückgehen, dann sehen wir, dass Schmerz ein sehr altes Phänomen ist: Es gibt Schmerz, seitdem es komplexe Nervensysteme gibt. Und Schmerz kommt nie allein. Er ist immer an ein zusätzliches Signal gekoppelt, das weiteren Aufschluss über seine Ursache geben soll – so tritt er z.B. gemeinsam mit einem Druckgefühl, Hitze- oder Kälteempfinden oder einem Stechen auf sowie stets gepaart mit einer Information zum genauen Ort der Entstehung. Schmerz dient uns als eine Art „Frühwarnsystem“. Er soll uns dazu auffordern, einen Zustand zu vermeiden, zu begrenzen oder zu beenden, der uns entweder akut schädigt oder uns Schaden zufügen würde, wenn er dauerhaft anhält. Schmerz war unserem Überleben schon immer nützlich.

Wir ziehen aus Schmerz die Hand aus dem Feuer, schrecken vor Dornenhecken zurück und laufen nicht barfuß über spitze Steine – lauter Verhaltensweisen, die mögliche Schädigungen an unserem Körper vermeiden. Auch hilft uns Schmerz z.B., unsere Muskeln und Gelenke nicht zu überfordern und zu schädigen oder ruft uns dazu auf, verletzte Stellen in der Haut zu schützen und zu behandeln. In unserem stetigen Lernprozess, uns in der Welt zurechtzufinden, ist Schmerz ein entscheidendes Mittel: Wir lernen aus Schmerzereignissen, künftig auf vergleichbare Gefahrenquellen zu achten und können dieses Wissen sogar an unsere Nachkommen weitergeben – ein Umstand, der uns Menschen einen evolutionären Vorteil bringt. So lernt nicht nur jeder Mensch anhand des Schmerzes im Laufe seines individuellen Lebens immer mehr dazu, wie er Leib und Leben bestmöglich schützt, sondern die gesamte Menschheit profitiert in ihrer Entwicklung von Schmerzerfahrungen.

Lange Zeit glaubte man, dass sowohl die Wahrnehmung als auch die Wirkung von Schmerz bei Mann und Frau gleich seien. Doch die Hinweise darauf, dass dies eine grobe Fehleinschätzung ist, häufen sich immer mehr. Grundsätzlich scheint es signifikante Differenzen zwischen den Geschlechtern bezüglich der sogenannten „Nozizeption“, d.h. der Schmerzwahrnehmung, zu geben, und dies scheint auf genetischen, neuronalen und hormonellen Faktoren zu basieren.

Schon 2006 wurde in einem Übersichtsbeitrag gezeigt, dass in mehreren Experimenten Unterschiede bei Mann und Frau in der Wahrnehmung von thermalen, elektrischen, chemischen und Druckreizen beobachtet werden konnten. In den Versuchen wurden zwei unterschiedliche Schwellenwerte ermittelt: Erstens der Punkt, ab dem ein Reiz zum ersten Mal dezidiert als Schmerz wahrgenommen wird und zweitens der Punkt, ab dem der Reiz von den Proband:innen nicht mehr toleriert wird (der sogenannte „withdrawal“ Punkt, also z.B. der Punkt, an dem die Hand von der Herdplatte gezogen wird). Alle Studien zeigten übereinstimmend, dass die Schwellenwerte bei weiblichen Probandinnen niedriger lagen. Das bedeutet: Die Schmerzempfindlichkeit war bei Frauen höher, die Schmerztoleranz niedriger.

Was ist nun aber die Ursache für diesen Unterschied? In einem Übersichtsartikel von 2021 kommt ein Neurowissenschaftler der Universität Oxford zu dem Ergebnis, dass Frauen generell ein wesentlich größeres Risiko tragen, chronische Schmerzzustände zu entwickeln als Männer. Beobachten lasse sich dies vor allem bei Kopf- und Rückenschmerzen. Der Autor gibt dafür multifaktorielle Gründe an, doch besonders wichtig scheint der Einfluss von Hormonen auf das Schmerzgeschehen zu sein. Demnach wirken Sexualhormone auf neuronale Prozesse im Körper, die wiederum u.a. Auswirkungen auf die Verarbeitung von Schmerzsignalen haben. Auch nehmen Sexualhormone Einfluss auf immunabhängige Prozesse, die sich – oft mittels Botenstoffen – ebenfalls auf die Schmerzprozessierung auswirken.

Wie Männer und Frauen unterschiedliche Konsequenzen aus Schmerzen ziehen

Doch nicht nur bei der Entstehung von Schmerz, sondern auch im individuellen Umgang damit lassen sich Unterschiede zwischen Mann und Frau beobachten. 2019 konnte in einer Untersuchung gezeigt werden, dass für Männer, wenn sie Schmerz empfinden, der „Verletzungsaspekt“ im Vordergrund steht: Das Gefühl, durch die Erfahrung von Schmerzen ihrer Unverletzlichkeit beraubt zu sein, wurde von den männlichen Probanden viel stärker beschrieben als von den weiblichen. Laut der Untersuchung lässt sich als typisch männliche Umgangsstrategie mit der Schmerz- und Verletzlichkeitsempfindung etwas beobachten, das man etwa „Aktivitäts-Anpassung“ („activity pacing“) nennen kann, nämlich eine merkliche Drosselung der Aktivitäten bzw. Vorhaben sowie das verstärkte Einlegen von Pausen, abgestimmt auf die jeweilige Schmerzsituation. Besonders bemerkenswert ist, dass Frauen zum genauen Gegenteil neigen, wenn sie Schmerz empfinden, nämlich zum sogenannten „overdoing“, d.h. zu einem übermäßigen Anstrengen, ihre Vorhaben trotz Schmerzen vorstellungsgemäß umzusetzen – Aktivitätserhöhung auf der weiblichen und Aktivitätsverringerung auf der männlichen Seite.

Der Zweck archaischer Schmerz-Strategien

Wenn wir einen Blick zurück in die Wiege der menschlichen Gattung werfen, finden wir einen Hinweis darauf, welchen Beitrag die Evolution zu diesen unterschiedlichen Umgangsstrategien geleistet haben könnte. Nach heutiger Auffassung sah die archaische Rollenverteilung etwa so aus: Der Mann der Jäger- und Sammlerzeit sorgte mit seiner Beute für die Nahrung der Sippe, während die Frau mit der Pflege der Nachkommen betraut war. Stellen wir uns nun den Fall vor, in dem der Jäger verletzt oder krank ist, dann ist schnellstmöglich dafür zu sorgen, dass seine Kräfte wiederhergestellt werden. Fällt der Jäger zu lange aus, verhungert das ganze Rudel. Die Rauheit der Wildnis der Jäger- und Sammlerzeit bedingte es, dass nur ein Jäger, der bei vollen Kräften war, erfolgreich Beute machen konnte. Die schnellstmögliche nachhaltige Genesung des Jägers musste also oberste Priorität haben und sämtliche Aktivitäten, die jene körperliche Ressourcen abzogen, die für die Genesung benötigt wurden, waren einzustellen. Ganz anders aber steht es für den Part, der für die Brutpflege verantwortlich ist: Die Nachkommen müssen ständig versorgt werden, um zu überleben, und die Brutpflege ist, wenn sie erfolgreich sein soll, zu jedem Moment gegenüber der nachhaltigen Genesung der Verantwortlichen zu priorisieren.

Selbstausbeutung als evolutionäre Sackgasse?

Man könnte einwenden, dass die Sippe letztlich nicht davon profitiere, wenn die Brutpflegerinnen Raubbau an ihrem Körper betreiben und so auf kurze Sicht zwar ihre Rolle ausfüllen, aber auf lange Sicht nicht gesund überleben können. Was ist damit gewonnen, wenn dieser Part durch andauernde Selbstausbeutung am Ende doch den Fortbestand der Sippe gefährdet? Darauf lässt sich antworten, dass es aus Sicht der Evolution schlichtweg nicht wichtig ist, dass die einzelnen Individuen einer Gattung ein langes, gesundes Leben führen. Das Einzige, was zählt, ist der Fortbestand der Art, und der wird garantiert, indem genügend – im Sinne der Evolution erfolgreiche – Nachkommen hervorgebracht werden. Ganz vereinfacht gesagt: Sobald so viele gesunde Nachkommen wie möglich in die Welt gesetzt und diese so erfolgreich aufgezogen wurden, dass sie selbst, in Form ihrer eigenen Sippe, für den weiteren Fortbestand der Art sorgen können, hat die vorige Generation ‚ausgedient‘. So hart es für unsere heutigen Ohren klingen mag: Dem reinen Fortbestand der Spezies ist mehr gedient, wenn jede Generation ihre Ressourcen ideal dafür nutzt, dass eine maximale Anzahl an erfolgreichen Nachkommen hervorgebracht wird – und weniger, wenn sich alle Individuen zur ‚falschen‘, d.h. in der Sache der Nachkommen produktivsten Zeit, schonen, um schließlich auf Kosten der Anzahl erfolgreicher Nachkommen ein längeres Leben führen zu können.

Neue Strategien für alle

Nun leben wir heute nicht mehr in der Steinzeit und können es als eine der größten Errungenschaften in der Entwicklung der Menschheit bezeichnen, dass wir uns bewusst dazu entscheiden können, das Individuum nicht bloß in den Dienst des Fortbestands der Art zu stellen. Es ist ein Gebot unseres – im heutigen Sinne des Wortes – humanen Umgangs miteinander, dass jedem Menschen ein möglichst leidfreies Leben ermöglicht werden soll. Für unseren Umgang mit Schmerzen bedeutet das: Wo immer möglich beheben, statt auszuhalten. Besonders für Frauen, die in der Schmerzwahrnehmung sensitiver, hinsichtlich der Chronifizierung von Schmerzen gefährdeter und für einen ungesunden Umgang mit dem eigenen Schmerz empfänglicher sind, muss die Devise sein, den Schmerzen rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Bei Kopfschmerzen, wo weibliche Patienten gegenüber den männlichen weltweit deutlich stärker belastet sind, gilt es darum einmal mehr, zu einem achtsamen Umgang aufzurufen.

  • Quellenangaben
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