Selten da und doch so wertvoll – Stille für das Gehirn

Viele Menschen kennen sie nur noch vom Hörensagen – ist doch der Alltag gefüllt mit den unterschiedlichsten Reizen für unsere Sinnesorgane. Gemeint ist die Stille. Warum sie so gut gegen Kopfschmerz- und Migräneattacken ist, betrachten wir in diesem Beitrag.

Ruhe steht sogar im Gesetz

Das deutsche Ordnungswidrigkeitengesetz regelt in § 117 (1): „Ordnungswidrig handelt, wer ohne berechtigten Anlass oder in einem unzulässigen oder nach den Umständen vermeidbaren Ausmaß Lärm erregt, der geeignet ist, die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erheblich zu belästigen oder die Gesundheit eines anderen zu schädigen.“ Der Gesetzgeber trägt also dem Umstand Rechnung, dass Lärm die Gesundheit schädigen kann. Vordergründig denkt man vermutlich zunächst an Schäden, die unser Gehörsinn erleidet, wenn wir starkem Lärm ausgesetzt sind. Die Forschung zeigt aber: Die gesundheitlichen Folgen von anhaltender Lärmbelastung sind weitreichend. Sie beschränken sich keineswegs auf die bleibenden Schädigungen der Sinneszellen in unserem Innenohr.

Gesetze auf Bundes- und Länderebene legen Ruhezeiten fest, in denen wir vor Lärm geschützt sein sollen: Während der Nachtruhe und an Sonn- und Feiertagen dürfen Geräusche, die man verursacht, höchstens Zimmerlautstärke haben. Lärm ist allerdings nicht nur dann ein Problem, wenn er unser Gehör zu schädigen droht. Die Wissenschaft hat inzwischen viele Beweise dafür, dass dauerhafte Geräuschbelastung uns auf vielfache Weise krank machen kann. Darum sind Erholungspausen vom Alltagslärm für unser Wohlbefinden unerlässlich. Warum ist das so?

Lärm ist ein handfestes Problem

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht im Zusammenhang mit der allgemein gestiegenen Lärmbelastung des modernen Menschen von einer „modernen Pest“. Die Beweislage dafür, dass Umweltlärm schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung hat, sei erdrückend. Man könne vielerorts sogar von einer Lärmverschmutzung ausgehen.

In der Tat ist der Mensch in vielen Lebensbereichen den unterschiedlichsten Formen von Lärm ausgesetzt. Die Ruheräume hingegen scheinen seit Beginn der Industrialisierung immer weiter zu schrumpfen. Wer sich fragt, wann er in der letzten Woche Momente der absoluten Stille erlebt hat, wird vermutlich nicht allzu viele davon nennen können.

Lärmbelastung hat unmittelbare Auswirkungen auf unseren Schlaf, die Konzentrationsfähigkeit, unsere Kommunikation und auch auf unsere Fähigkeit, uns zu erholen. Besonders schwerwiegend ist aber die andauernde Beschallung, die häufig von weiteren Umweltreizen begleitet wird, auf das Kopfschmerz- und Migränegeschehen: Die Wissenschaft hat eindeutige Zusammenhänge zwischen Lärm und der Häufigkeit und Schwere der Attacken bei Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp nachweisen können.

Eine erstaunliche Fähigkeit: Erkennung von Gefahren mithilfe von Sinnesreizen

Unser Körper ist natürlicherweise darauf eingestellt, bei sämtlichen Reizen, die ihm begegnen, eine Art Gefahreneinschätzung vorzunehmen. Jede Wahrnehmung wird daraufhin geprüft, ob dahinter eine Gefahrenquelle steckt. Jedes Geräusch, dem wir uns unvermittelt ausgesetzt sehen, könnte auf eine Situation hinweisen, die unser Leben gefährdet. Versetzen wir uns für einen Moment in die Steinzeit: Damals konnte beispielsweise ein Raubtier, also eine Gefahr für Leib und Leben, hinter einem plötzlichen Geräusch stecken. Heutzutage könnte es ein herannahendes Auto sein, das uns gefährdet. Auch für andere plötzliche Sinneseindrücke gilt: Unser Gehirn muss stets blitzschnell klären, ob sich eine Gefahr dahinter verbirgt. Das würde nämlich sofortiges Handeln (Flucht, Kampf, Schutz) erfordern.

Was unser Gehirn dabei leistet, ist erstaunlich. Denken wir nur daran, wie viele Eindrücke im Laufe eines ganzen Tages auf uns einströmen: Je nach Lebensform und -ort kann so ein Tagesverlauf einer regelrechten Dauerbeschallung von Lärm, schnellen optischen Reizen und starken Gerüchen gleichen. Dabei arbeitet unser Gehirn, ohne dass wir es wahrnehmen, auf Hochtouren.

Überforderung bei Dauerbeschallung

Die Fähigkeit, immerfort auf Sinnesreize reagieren und diese einordnen zu können, kann uns auch überfordern. Wenn wir einer Vielzahl von ankommenden Informationen ausgesetzt sind, kann unser Gehirn diesen Überfluss nicht mehr zuverlässig verarbeiten. Aus Straßenlärm, Handyklingeln, wechselnder künstlicher Beleuchtung, neuer Musik in jedem Geschäft, Eindrücken aus den sozialen Medien und vielem mehr ergibt sich eine ständige Überfütterung mit Reizen. Es entsteht eine Art Notstand, in dem wir uns darauf einstellen, jederzeit flüchten oder auf Bedrohungen reagieren zu können. Dauert dieser Zustand an oder wird gar zum Alltag, kommt es zu einer erheblichen Zunahme von Kopfschmerzereignissen – sowohl beim Kopfschmerz vom Spannungstyp als auch bei der Migräne. Durch den anhaltenden Alarmzustand werden außerdem große Mengen des Stresshormons Hydrokortison freigesetzt. In der Folge können viele weitere Körperfunktionen beeinträchtigt und sogar Organe geschädigt werden.

Kopfschmerz vorbeugen in der Stille

In dem Maße, in dem unsere Umgebung und damit auch unser Inneres unruhiger, lauter und ruheloser werden, gibt es inzwischen bei vielen Menschen das Bedürfnis, sich bewusst Stille zu gönnen und Orte aufzusuchen, wo das möglich ist. Oft sind es nur zehn Minuten, die man in absoluter Stille zubringt, und die helfen, das reizüberflutete Gehirn in den Normalzustand zurückzuversetzen.

Manche Menschen nehmen sich auch eine längere Auszeit in der Abgeschiedenheit. Zeiten der Stille zählen zu den wirkungsvollsten Vorbeugungsmaßnahmen gegen Kopfschmerz- und Migräneattacken. Eine wissenschaftliche Untersuchung konnte nachweisen, dass bereits zwei Minuten Stille nicht nur dem Geist, sondern auch unserem Körper guttun: Der Blutdruck sinkt, die Atmung normalisiert und der Blutfluss im Gehirn verbessert sich. Die Stille wirkte sogar besser auf die Teilnehmer*innen als beispielsweise Entspannungsmusik.

Spielräume zur Vorbeugung nutzen

Diese und andere Untersuchungen zeigen: Es hat merkliche Effekte, Momente der Stille in den Alltag einzubauen. Auch kann es von Nutzen sein, sich von Zeit zu Zeit längere Zeiten der Stille zu gönnen. Das mag im Alltag nicht immer gelingen. Dennoch können wir den Spielraum, der sich ergibt, nutzen, und die Stille immer wieder bewusst ‚suchen‘: Vielleicht lässt sich am Wochenende ein Spaziergang im Wald einrichten. Im Naturrauschen ist zwar keine absolute Stille zu finden, aber eine Vielzahl an Untersuchungen zeigt, dass diese Geräuschkulisse eine deutlich wohltuendere Wirkung auf uns hat als die Töne der Zivilisation. Wer ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie heilsam Ruhe ist, kann seine Möglichkeiten besser nutzen. Davon profitieren wir dauerhaft. Und die vorbeugende Wirkung auf Kopfschmerz- und Migräneattacken wird meist schon nach kurzer Zeit spürbar.

  • Quellenangaben
    • Bernardi, L., Porta, C., & Sleight, P. (2006). Cardiovascular, cerebrovascular, and respiratory changes induced by different types of music in musicians and non-musicians: the importance of silence. Heart (British Cardiac Society), 92(4), 445–452. doi.org/10.1136/hrt.2005.064600
    • Goines L, Hagler L. Noise pollution: a modern plague. South Med J. 2007 Mar;100(3):287-94. doi: 10.1097/smj.0b013e3180318be5.
    • Kirste I, Nicola Z, Kronenberg G, Walker TL, Liu RC, Kempermann G. Is silence golden? Effects of auditory stimuli and their absence on adult hippocampal neurogenesis. Brain Struct Funct. 2015 Mar;220(2):1221-8. doi: 10.1007/s00429-013-0679-3. Epub 2013 Dec 1.