Migräne und geistige Leistungsfähigkeit – Hilfe oder Hindernis?

Im Gehirn von Menschen mit Migräne gibt es Besonderheiten, was die Verarbeitung von Reizen betrifft. Die Wissenschaft hat dazu bereits viel geforscht. So fand man beispielsweise heraus, dass das Gehirn eines Migränebetroffenen Reize offenbar früher und schneller verarbeitet, als es bei einem Menschen ohne Migräneveranlagung der Fall ist. Darüber hinaus hat man nachgewiesen, dass bestimmte Veränderungen im menschlichen Erbgut für diese besondere Veranlagung sorgen. Um das herauszufinden, wurden umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt: Man suchte nach kleinsten Veränderungen im Erbgut, die mit der Veranlagung für Migräne im Zusammenhang stehen könnten. Solche Untersuchungen sind sehr aufwändig, weil man eine hohe Teilnehmerzahl benötigt. Daher taten sich viele Wissenschaftler*innen zusammen und sammelten Ergebnisse an über 375.000 Teilnehmer*innen. Dabei fand man insgesamt 44 Stellen im menschlichen Erbgut, an denen kleinste Veränderungen festgestellt wurden. Diese stehen mit einer Erhöhung des Risikos für eine Migräneerkrankung in Verbindung.

Eine Besonderheit von Menschen mit Migräne: die Reizverarbeitung

Das Nervensystem von Migränebetroffenen steht wegen einer gesteigerten Reizverarbeitung ständig unter ‚Hochspannung‘. Dadurch ist sein Energiebedarf besonders hoch. Bei zu schneller oder zu lange anhaltender Reizverarbeitung kann es daher zu einem Zusammenbruch der Energieversorgung der Nerven kommen. In der Folge kann die Steuerung der Nervenfunktionen entgleisen. Daraufhin werden schmerzauslösende Botenstoffe freigesetzt und die hämmernden Migränekopfschmerzen stellen sich ein. Die Besonderheit einer gesteigerten Reizverarbeitung haben viele bedeutende Persönlichkeiten geteilt, die von Migräne betroffen waren, z. B. Pablo Picasso, Richard Wagner und Marie Curie.

Beeinträchtigt die Migräne unsere Denkfähigkeit?

Um sich solchen Fragen anzunähern, hat die Wissenschaft die Fachbegriffe „Kognition“ und „kognitive Fähigkeiten“ eingeführt. Diese Wörter beschreiben kurz und einprägsam die „Summe aller Denk- und Wahrnehmungsvorgänge und deren Ergebnisse“. Inzwischen gibt es ein umfangreiches Forschungsgebiet zu vielen Themen, die mit der Kognition in Zusammenhang stehen.

So sind auch der Frage, ob Menschen mit Migräne während der Migräneattacken eine Beeinträchtigung ihrer kognitiven Funktionen erfahren, in jüngerer Zeit einige Untersuchungen gewidmet worden. Außerdem wird erforscht, ob es für Betroffene auch zwischen den Attacken zu solchen Einschränkungen kommen kann und ob es aufgrund der lebenslangen Dauer der Erkrankung bis ins Alter kognitive Defizite im Sinne einer Langzeitwirkung gibt.

Schwierige Forschung

Die Antworten auf diese Fragen, denen sich die Wissenschaft stellt, sind nicht zuletzt für die Betroffenen selbst von großem Interesse. Ein Blick in die neuesten Forschungsergebnisse zeigt aber, dass ganz eindeutige Erkenntnisse hier bis heute (noch) nicht erzielt werden konnten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass solche Forschungsfragen zu einem wesentlichen Teil die Selbstwahrnehmung und das eigene Empfinden der Betroffenen berühren. Wenn in einer Untersuchung nach möglichen Beeinträchtigungen der Kognition durch Migräneattacken gefragt wird, sind die Forscher*innen auf persönliche Aussagen und Eindrücke der Betroffenen angewiesen. So wird beispielsweise erhoben, ob die Betroffenen während ihrer Attacken bzw. dazwischen Einschränkungen in ihrer Denkleistung wahrgenommenen haben.

Solche Erhebungen sind also keine Ergebnisse neutraler und verlässlicher Testsysteme, sondern geben Auskunft über die jeweilige Selbstwahrnehmung und häufig auch das Empfinden der Betroffenen. Die Einschränkungen selbst sind damit keineswegs weniger relevant für die Patient*innen, denn die persönliche Wahrnehmung kognitiver Beeinträchtigungen kann großes Gewicht im Leidensdruck der Betroffenen haben. Gleichwohl beschreitet die Forschung bei solchen Fragen einen schwierigen Pfad zwischen naturwissenschaftlicher Exaktheit und Nachvollziehbarkeit auf der einen und der je eigenen Krankheitsempfindung der Patient*innen auf der anderen Seite.

Wie wirkt die Migräneattacke auf die Denkfähigkeit?

Eine umfangreiche Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2019 wertet Erhebungen aus, die auf mögliche Einschränkungen während der verschiedenen Abschnitte einer Migräneattacke eingehen. Es zeichnet sich ein Bild ab, wonach kognitive Beschwerden die herannahende Attacke anzukündigen scheinen. Dabei kommt es dann bei den Betroffenen häufig zu Sprach- und Lesestörungen sowie Konzentrationsschwäche. Überdies berichten sie von weiteren Belastungen wie etwa Niedergeschlagenheit und Angstzuständen. Im akuten Moment der Attacke lassen sich dann z.B. Sprachstörungen und Konzentrationsschwäche ausmachen: Die Patient*innen nehmen unter anderem eine Verlangsamung ihres Denkens, Orientierungsprobleme im Denken oder Retardierung von Denkprozessen wahr. Außerdem beschreiben sie, dass sie sich müde, abgeschlagen, kraftlos oder depressiv fühlen. Laut der Untersuchung klingen die Symptome in der Regel mit dem Ende der Attacke ab.

Wie sieht es zwischen den Attacken aus?

Bei der episodischen, also weniger häufig und eher unregelmäßig vorkommenden Migräne (≤14 Migränetage pro Monat) normalisiert sich in der Zeit zwischen den Attacken die Kognition der Betroffenen meist wieder. Allerdings kann es durch die veränderte Reizverarbeitung dennoch beispielsweise zu einer erhöhten Lichtempfindlichkeit kommen. Auch wird von einer veränderten Schmerzverarbeitung berichtet.

Im Fall der sogenannten chronischen, also sehr häufig auftretenden Migräne (≥15 Migränetage pro Monat) verkürzen sich oft die Erholungsphasen zwischen den Attacken. Bildgebende Verfahren zeigen, dass die Übererregbarkeit bestimmter Bereiche im Gehirn zwischen den Attacken nicht ganz zurückgeht. In besonders schweren Fällen bleibt sie sogar bestehen. Zudem kann sich eine chronische Aktivierung des sogenannten Trigeminus-Nervs einstellen, die zu einer dauerhaft veränderten Schmerzverarbeitung führt. Das wiederum kann nachteilige Folgen für die nervliche Verarbeitung von Gefühlen und die Kognition zu haben.

Häufigkeit und Dauer der Attacken scheinen sich auszuwirken

Eine Untersuchung von 2017 betrachtet den Zusammenhang kognitiver Beeinträchtigung mit der Dauer und Häufigkeit von Migräneattacken und stellt fest, dass die durch die chronisch erhöhte Häufigkeit der Attacken negative Auswirkungen auf die Kognition der Betroffenen mit sich bringt. Sie finden erhebliche Schwierigkeiten im Sprach- und Erinnerungsvermögen, bei der sogenannten „kognitiven Kontrolle“ von bewusstem und aufmerksamem Handeln sowie im Rechen- und Orientierungsvermögen. Begleitende Untersuchungen (EEG: Elektro-Enzephalogramm) zeigen, dass es hierbei möglicherweise zu einer Verlangsamung der Verarbeitung und Weiterleitung von Nervenreizen kommt. Diese Beobachtungen lassen sich laut den Forscher*innen klar mit der Dauer einer Attacke, manche Teilbefunde (z. B. „kognitive Kontrolle“ und Rechenvermögen) zusätzlich mit deren Häufigkeit in Zusammenhang bringen.

Keine nachhaltigen Beeinträchtigungen zu erwarten

Was die Nachhaltigkeit der Auswirkungen auf die Denkfähigkeit durch die Migräne betrifft, sind sich die meisten Untersuchungen der letzten zehn Jahre einig: Sie sehen keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen lebenslanger Migräne und kognitiven Defiziten, die sich bei Betroffenen gegenüber nicht Betroffenen im Alter bemerkbar machen (je nach Erhebung wurden Betroffene im Alter über 65 oder über 50 Jahre einbezogen). Es bleibt bei all den ernstzunehmenden Einschränkungen der Betroffenen also eine tröstliche Aussicht: Zwar erleben Migränebetroffene zum Teil erhebliche Beeinträchtigungen, die zum Teil auch kognitiver Natur sind. Dennoch scheinen diese Beschwerden nicht solche Spuren zu hinterlassen, dass die kognitiven Fähigkeiten im Alter dadurch beeinträchtigt sind.

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